Zeitzeugengespräche


 „Ich wurde mit acht Jahren zum Tode verurteilt, gemeinsam mit vielen Sinti- und Roma-Kindern.“ Es ist still in der Aula des Johannes-Gymnasiums, als Henriette Kretz, eine der letzten Überlebenden des Holocaust, zu erzählen beginnt. Kretz ist nicht das erste Mal am Johnny zu Gast: Im vergangenen Schuljahr war coronabedingt jedoch lediglich eine Videokonferenz möglich. „Wir freuen uns, dass Sie nun leibhaftig hier bei uns sind“, begrüßt Geschichtslehrerin Julia Ernst die inzwischen fast 90-jährige, die als Mitglied des polnischen Vereins Kinder des Holocaust unermüdlich für das Maximilian-Kolbe-Werk als Zeitzeugin unterwegs ist. „Heute morgen hat sie zu mir gesagt, ich soll so viele Termine wie möglich in einen Tag packen“, erzählt Marc Fachinger vom Bistum Limburg, der sie begleitet. 

Die alte Dame steht aufrecht auf der Bühne, manchmal sucht sie Halt an einer Stuhllehne. Sie wird fast 90 Minuten über ihre Kindheit und Familie, über die Gräuel der Nazis, über Hunger, Verstecke und Flucht erzählen. Im Oktober 1934 wird sie als einziges Kind eines Arztes und einer Juristin im damals polnischen Stanislawow (heute Ukraine) geboren: „Ich hatte eine schöne Kindheit und liebevolle Eltern und viele Freunde, es gab immer etwas zu spielen“. Sie ist - wie alle Kinder - neugierig und bei einer Prozession, zu der sie mit ihrem sehr gläubigen Kindermädchen geht, schaut sie einem Priester unter die Soutane: „Ich wollte wissen, ob er Beine hat.“ Es sind diese kleinen heiteren Episoden, mit denen Kretz den Zuhörer*innen ein kurzes Aufatmen bei diesen bedrückenden Geschichten ermöglicht.

Da sind die brennenden Städte, die Flucht nach Lemberg und ins von der Sowjetunion annektierte Sambor, wo der Vater Direktor eines Erholungshauses für tuberkulosekranke Kinder wird. Da ist nach dem Abzug der sowjetischen Soldaten der Marsch – „wir wurden wie Verbrecher durch die Straßen getrieben“ – ins Ghetto nach Lemberg. Da ist der Hunger, den die alte Dame noch heute bei Berichten über hungernde Kinder spürt. Da sind die vielen Tage, an denen sie sich verstecken muss: hinter einem Schrank, dann mit ihrer Familie in einem lichtlosen Kohlenkeller. „Wir konnten nichts sehen, wussten nicht, ob Tag oder Nacht, und konnten uns nicht bewegen“. In der Aula ist es so still, dass man die berühmte Nadel fallen hören könnte. Als die Familie verraten wird, treiben die SS-Leute sie auf die Straße. Ihre Eltern wissen, was auf sie zukommt – Lager, Gas, Ermordung – und rufen Henriette nur noch zu: „Lauf“. Sie hört die Schüsse, versteckt sich und klopft am nächsten Tag im Waisenhaus von Sambor an, das von Franziskanerinnen geleitet wird. Schwester Celina kümmert sich wie eine Mutter um sie und ein Dutzend weiterer Kinder - Juden, Sinti, Roma - und rettet ihnen so das Leben. 

Was sie den Menschen entgegensetzt, die behaupten, es habe den Holocaust nicht gegeben, will eine Schülerin wissen. „Es gibt die Bilder, die in den Wochenschauen gesendet wurden, es gibt die Erinnerungsorte und Friedhöfe.“ Und es gibt die Überlebenden, die Zeugnis abgeben. So wie Georg Bandor: „Das ist ein Wunder. Als ich im Gefängnis war – ich war das einzige Kind unter lauter Frauen – ging die Tür auf und ein kleines nacktes Baby, noch mit Nabelschnur, wurde in den Raum geworfen. Ich habe meinen Mantel ausgezogen und das Baby da hineingewickelt. Zwei Tage später durfte ich das Gefängnis verlassen“. 

Das Baby, Georg Bander, überlebte. Er erfuhr erst als Erwachsener, dass seine leibliche Mutter im Gefängnis gestorben war. Und stand irgendwann seiner Lebensretterin Henriette gegenüber – eine bewegende Begegnung. Bander hat dieses Wunder in einem Gedicht verewigt: 

Es knarrte der Schlüssel in dem Schloss. 

Durch die offene Tür warf jemand ein neugeborenes Baby,

nackt und mit Blut bedeckt.

Keiner kannte die Mutter – und so kam noch ein Jude auf die Welt.

Hania, Mädchen, du hast deine Jacke gegeben,

um das Baby einzuwickeln: 

Gott hat dich gerettet, um Zeuge zu sein, 

dass ich geboren bin und dass ein Wunder geschah.

 

Jüdische Frauen haben das Leben gegeben, so wie 

Meine Mutter, die ich nie kennenlernen werden.

Wunderbare Madonnen, die in Belzec schlafen. 

Ich lebe, um ihnen ein Lied zu singen.

Und solange ich lebe, soll mein Gesang nicht aufhören.

Die Welt soll sich erinnern, dass ein Verbrechen geschah.

Das Schicksal hat mich verschont, 

um am frühen Morgen da zu sein, 

um weiterzusingen, 

um nicht zu vergessen, 

solange das Gedächtnis reicht. 

(mrk)